4. 2. 2022 Winfried Kretschmann und der „plural majestatis“

Der erste grüne Ministerpräsident kam nicht nur bei den Grünen, sondern auch bei vielen bürgerlichen Wählern und bei den Unternehmern in Baden-Württemberg gut an.

Doch mit der Ehrerbietung kommt oft der Hochmut, und er kam auch in die baden-württembergische Staatskanzlei. „Wir brechen jetzt keine Exit-Strategie-Debatte vom Zaun“, dekretierte Kretschmann in dieser Woche. Es ging um Lockerungen der Corona-Maßnahmen, wie sie bereits in mehreren europäischen Ländern angelaufen sind und auch bei uns diskutiert werden.

Winfried Kretschmann sagte „wir“ statt „ich“, eine Unsitte, die sich bei immer mehr führenden Politikern auf allen Ebenen ausgebreitet hat. Den pluralis majestatis kannte man früher nur von Monarchen. „Wir, Wilhelm, Deutscher Kaiser von Gottes Gnaden …“ Das wollen wir König Winfried nicht unterstellen, der ob seiner Vergangenheit in der Kommunistischen Studentengruppe „Marxisten/Leninisten“ oder im Kommunistischen Bund Westdeutschlands wahrlich kein Monarchist sein dürfte.

Aber man darf die Frage stellen, warum immer mehr Politiker den Plural verwenden, wenn sie von sich selbst sprechen. Sagt z. B. unser Bundeskanzler in der Pressekonferenz, „Ich  lehne militärische Hilfe für die Ukraine ab“, dann äußert er eine eigene Meinung und muss dafür letztlich gerade stehen. Sagte er stattdessen „Wir lehnen …“, nimmt er als Kanzler das gesamte deutsche Volk in die Pflicht, mindestens aber die Bundesregierung. Und da ist es mit einer Fehlentscheidung und mit einem Rücktritt nicht ganz so einfach!

Aber man kann nicht so ganz sicher sein, dass bei dieser Plural-Verwendung der jeweilige Politiker (m/w/d) an die Gefahr eines Rücktritts denkt. Vielmehr versteckt er sich hinter dem „Wir“, weil er nicht mutig genug ist, die gesamte Verantwortung auf sich zu nehmen. Denn irgendwer hat immer etwas zu meckern, und dafür ist letztlich sogar die Opposition da. Hat man die Entscheidung im Singular getroffen, muss man persönlich die Argumente der Gegner widerlegen können. Und derer gibt es viele: Teil der eigenen Faktion, der/die Koalitionspartner, selbstverständlich die Opposition und natürlich die besserwisserische, aber keine Verantwortung tragende Presse.

Das ändert sich frühestens in der zweiten Legislaturperiode, wenn man als Kanzler oder Ministerpräsident wiedergewählt worden ist. Je länger man in der Führungsposition ist, desto eher nutzt man die erste Person Singular, nämlich das „ich“. Fragen Sie ´mal Altkanzler Kohl oder die Dauerkanzlerin Merkel, die irgendwann schüchtern mit „Wir“ anfingen und dann bald beim „Ich“ gelandet sind!

Dorthin werden Kretschmann und seinesgleichen auch noch kommen!