4. 1. 2022 Wird die CDU/CSU mit Merz wieder konservativ?

NATO-Nachrüstung-Beschluss und deutsche Wiedervereinigung waren die beiden letzten großen konservativen Projekte, die funktionierten.

Die Nachrüstung, für die der SPD(!)-Kanzler Helmut Schmidt verantwortlich zeigte, erwies sich als wesentliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion, die Wiedervereinigung machte aus einer moralisch und materiell ruinierten mitteleuropäischen Zone innerhalb weniger Jahre ein ansehnliches Staatengebilde – eine Leistung, für die Deutschland auch 31 Jahre später immer noch in aller Welt bewundert wird.

Die Hasstiraden auf Helmut Kohl wegen seines Versprechens blühender Landschaften sollten lediglich ablenken vom peinlichen Versagen von SPD und Grünen im Schicksalsjahr 1990. In der Sache behielt der Kanzler recht, auch wenn es länger dauerte, als er ahnen konnte, nachdem selbst führende Ökonomen den Zustand der DDR-Wirtschaft bis zuletzt grotesk überbewertet hatten.        

Was aber nach der Wiedervereinigung an konservativen Reformprojekten kam, ist entweder bereits gescheitert (Deutsche Bahn, Bundeswehr) oder scheitert gerade vor unseren Augen (Euro, Europäische Union, Asyl und Einwanderung, vielleicht sogar die Reform der CDU und CSU selbst). Hartz IV und die Rettung von Umwelt und Natur hierzulande hätten auch konservative Projekte sein können, wurden aber im Wesentlichen von einem SPD-Kanzler und den Grünen durchgesetzt und deshalb auch auf ihr Konto gebucht. 

Friedrich Zimmermann (CSU) führte 1984 gegen das Geschrei der Autoindustrie und erbitterten Widerstand von Frankreich und Italien erst bleifreies Benzin und dann den Katalysator ein, Klaus Töpfer (CDU) schwamm 1988 nach der Sandoz-Schweinerei durch den Rhein und Angela Merkel (der CDU nahe stehend) zeigte 2007 zusammen mit Sigmar Gabriel (der SPD nahe stehend) ein Herz für Eisbären. Das war es im kollektiven Gedächtnis aber auch schon; der nicht einmal halbwegs zu Ende gedachte Atomausstieg von 2011 innerhalb eines Wochenendes war schon eher eine übereilte  „Panikreaktion“. Seine Folgen für Versorgungssicherheit, Preise und neue Abhängigkeiten vom Ausland stehen uns noch bevor. 

Was die Dauer-Misere der Schulen angeht, ist ein ernstzunehmendes Reformkonzept auch nach Jahrzehnten der Diskussion nicht einmal in Umrissen erkennbar, womit die Union ein originär konservatives Kernthema (Ausbildung) in erschütternder Weise ignoriert. Als die wenigen verbliebenen Konservativen Bernhard Vogel, Kurt Biedenkopf und Edmund Stoiber abdankten, endete die triumphale Ära der Union in Thüringen, Sachsen und sogar in Bayern. Und dass die Regierungschefs der Union ihre Länder überzeugender durch die Pandemie steuerten als jene von SPD, Linken und Grünen, kann man auch nicht behaupten.        

Soweit die aus konservativer Sicht wenig erfreuliche Lagebeschreibung Anfang 2022. Was folgt aus ihr? Nicht, was man auf den ersten Blick meinen könnte, nämlich dass mit konservativen Haltungen, Rezepten und Politikern kein Staat mehr zu machen sei. Zutreffend ist das exakte Gegenteil: Wenn immer weniger in Deutschland funktioniert, dann liegt das zum größten Teil an einem Mangel an fähigen konservativen Machern und Vordenkern mit einem ausreichenden Maß an Machtwillen und Machtbewusstsein. Inwieweit das eindeutige Votum für Friedrich Merz hier die Wende bringen kann, ist zur Stunde noch offen. 

Als der 66jährige neulich begann, Liebenswürdigkeiten an die Adresse Merkels zu flöten, und dabei beteuerte, er stehe „für die ganze Breite der Partei“, hielten nicht wenige seiner Unterstützer bereits die Luft an, ob jetzt nicht vielleicht auch er anfangen werde, in Begleitung von Fotografen Bäume zu stalken, und ob bei ihm nun die gleiche „Linksvergrünung“ stattfinde, die bereits das Profil von Markus Söder so gefährlich verschwimmen ließ. Habe er sich, so die bange Frage, nun doch irre machen lassen vom Trommelfeuer der linksgrünen Mainstreampresse, er sei „ein Mann von gestern“, über den „die Zeit hinweggegangen“ sei, der die Probleme und Aufgaben von morgen mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts lösen wolle und damit zwangsläufig scheitern müsse? Zeigen die medialen Dauerohrfeigen für den „alten weißen Mann“, noch dazu einer mit Geld und Gespür fürs Geschäft, ausgerechnet jetzt Wirkung, wo er ein wichtiges Etappenziel erreicht hat?

Bei allen Fehlern der Vergangenheit war die Union dabei, mindestens duldend, oft aber sogar fördernd und fordernd. Die Liste ist eine Aufzählung der Fehler und Irrtümer der Ära Merkel. Solange Friedrich Merz sich von dieser nicht klipp und klar distanziert, werden ihm immer die Hände gebunden sein, sobald es programmatisch zur Sache geht im Bundestag, im Wahlkampf und in den Talkshows.
Beispiel Abschaltung der Kernkraftwerke zur Jahreswende: Es wäre konservativ im Sinne von bewahrend gewesen zu erklären, dass 2021 völlig falsch sein könne, was zehn Jahre zuvor noch als richtig geglaubt wurde. 
Anstelle von respektvollem Gesäusel gegenüber der Altkanzlerin ist klare Kante angesagt, damit Wählerinnen und Wähler endlich wieder erkennen können, woran sie bei der Union sind.

Falls Merz es nicht von alleine bemerkt, sei es ihm hiermit noch einmal in aller Deutlichkeit geraten. Die klare Mehrheit für ihn ist ein Mandat auch und erst recht für diesen überfälligen Schnitt. 

Zur  Erinnerung: Angela Merkel war damals bei dem Bruch mit ihrem Vorgänger Helmut Kohl lediglich Generalsekretärin von Schäubles Gnaden, während sich Merz heute bei einem solchen Schritt auf eine valide Legitimation durch die Parteibasis berufen könnte. Der Text für eine solche unvermeidliche Zäsur schriebe sich von selbst. Unvermeidlich, weil sie unabdingbare Voraussetzung ist für jede erfolgreiche Wiederbelebung der deutschen Konservativen. Solange Merz sich nicht von Merkel emanzipiert, wird er  stets für die Folgen ihrer Politik in Mithaftung genommen werden und machtlos bleiben. Das wissen seine Gegner – und nutzen das nach Kräften aus.

Zuletzt muss Friedrich Merz noch auf eine ganz praktische Weise schnell funktionieren. Seine Arbeitsthese, nun sei erst einmal in aller Ruhe in den kommenden zwei Jahren Neuorganisation in der Opposition angesagt, kann schon morgen von der Realität widerlegt werden. Was, wenn die Abschaltung der vorletzten drei Atomkraftwerke das Strom-Domino ins Kippen bringt, wofür lediglich fünf, sechs ungünstige Faktoren zusammenkommen müssen? 

Was, wenn die furchtlose Kölner Staatsanwältin in den von ihr in Hamburg beschlagnahmten Unterlagen morgen jene E-Mail findet, die ihr noch fehlte, um nach Scholz-Spezi Johannes Kahrs nun auch gegen Olaf Scholz selbst zu ermitteln? Glaubt jemand im Ernst, der Mann könnte dann im Amt bleiben? Hier sei daran erinnert, dass vor zehn Jahren führende Sozialdemokraten und Grüne einen Bundespräsidenten aus dem Amt mobbten, dessen vermeintliche Verfehlungen später vor Gericht nicht einmal zu einem 20-Euro-Strafzettel reichten, weil er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.    

Wer etwas will, muss es zeigen

Der Satz, die Opposition sei eine Regierung im Wartestand und müsse notfalls morgen die Amtsgeschäfte übernehmen können, war nie so richtig wie heute. Schade nur, dass ausgerechnet ein Friedrich Merz keinerlei Anstalten macht, ihn zu beherzigen. Und ja, er wird auch Ralph Brinkhaus nicht durch gutes Zureden zum Verzicht bewegen können, sondern im Ernstfall durch eine Kampfkandidatur um den Fraktionsvorsitz. Na und? Brinkhaus hat es doch vor drei Jahren gegen Merkels Liebling Volker Kauder genauso gemacht! Trotzdem wäre es besser, mit dem intelligenten, rhetorisch hoch begabten Brinkhaus einen allseits befriedigenden modus vivendi zu finden.

Friedrich Merz muss funktionieren, wie die gesamte Union, wenn sie wieder die Richtlinien der Politik bestimmen will. Gut möglich, dass Merz viel weniger Zeit für seine Pläne hat, als er glaubt. Und mit diesen Plänen hat er nur dann eine Chance, wenn er zuvor glaubwürdig mit den Fehlern der Vergangenheit aufräumt, wozu er sie erst einmal benennen muss. Diesen Job nimmt ihm keiner ab. 

Keine andere als Merkel hat ihm gleich mehrfach gezeigt, wie das geht: Freundlich, aber bestimmt und notfalls auch, als es 2002 gegen ihn ging, gnadenlos. Das ist der Lauf der Welt und im Übrigen in der Kanzlerpension eingepreist. Denkmalschutz ist in der deutschen Politik nicht vorgesehen.