4. 1. 2020 Thilo Sarrazin über die Lage der SPD

Wie schon mehrfach an dieser Stelle empfohlen, lohnt es sich, bei der oft einseitigen Darstellung der politischen Situation in Deutschland die Printpresse anderer deutschsprachiger Staaten zu lesen. Österreich hat zur Zeit viel mit sich selbst tun, indem es ein Regierungsbündnis zwischen einer bürgerlichen Partei und einer grünen schmiedet, was nicht nur während der Gründungsphase zu erheblichen Problemen führen dürfte.

Da lohnt ein Blick in die Schweiz, die nicht nur ob ihrer jahrhundertealten Neutralität  die Gegebenheiten in Deutschland korrekter beschreibt als jene Journalisten, die in Deutschland meinen, „Haltung zeigen“ zu müssen.
Dabei wurde ein Artikel von Thilo Sarrazin gefunden, gegen den wieder einmal ein Ausschlussverfahren der SPD läuft, der aber noch der SPD angehört und sie und ihre Interna wie kein Zweiter kennen dürfte.

Auch wenn man ihm nicht in allem zustimmt, sind seine Gedanken lesenswert:

 

Requiem für eine Volkspartei

von Thilo Sarrazin, Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

Als der Vorläufer der SPD, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, vor 156 Jahren in Leipzig gegründet wurde, ging es dem Gründer Ferdinand Lassalle nicht um Ideologie, sondern um die Vertretung der Interessen der deutschen Arbeiter gegenüber dem liberalen Bürgertum. Erst 1875, bei dem Zusammenschluss mit der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten sozialdemokratischen Arbeiterpartei, trat die marxistische Ideologie hinzu.

Fortan war die interne Debatte der SPD bestimmt vom Kampf der Marxisten gegen die Reformer. Der Sieg des Reformflügels führte 1918/19 zur Spaltung der SPD und zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands. Der Radikalismus von links (KPD) und rechts (NSDAP) schwächte in seiner kombinierten Wirkung die Weimarer Republik und führte schließlich 1933 zu ihrem Untergang

1946 kam es im besiegten Deutschland in der Sowjetischen Besatzungszone zu einer Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED. 43 Jahre lang, von 1946 bis 1989, machte die SED Ostdeutschland zu einer kommunistischen Diktatur. Nachdem die Mauer gefallen war, wurde die SED zunächst zur PDS und schließlich im wiedervereinigten Deutschland zur Partei „Die Linke“.

Das Godesberger Programm war nicht das letzte Wort

In der westdeutschen SPD schien es so, als ob 1958 mit der Verabschiedung des Godesberger Programms das marxistische Erbe endgültig überwunden sei. Unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt schien die SPD in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft angekommen zu sein. Doch der Schein trog. Seit Anfang der siebziger Jahre gewann die marxistische Linke unter den Vordenkern und Funktionären der SPD erneut an Einfluss und Kraft. Das zeigte sich in den Debatten zur Wirtschaftsordnung, zur Bildungspolitik sowie zur Sicherheits- und Außenpolitik. 

Weil dem Bundeskanzler Helmut Schmidt 1982 die innerparteilichen Mehrheiten bei der Haushalts- und Sicherheitspolitik abhanden kamen, zerbrach die Sozialliberale Koalition und Helmut Kohl wurde Bundeskanzler. 1998 gewann Gerhard Schröder mit einem betont ideologiefreien Auftreten nach sechzehn Jahren erneut die Kanzlerschaft für die SPD und bootete in nur wenigen Monaten den linken Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine aus. Von 2003 bis 2005 schrieb sich Gerhard Schröder mit grundlegenden marktwirtschaftlichen Reformen des Sozialstaats in die Geschichtsbücher ein und legte die Basis für einen bis heute andauernden nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung. 

Diese Großtat führte zur Gründung der Linkspartei durch Oskar Lafontaine und somit indirekt zur erneuten Spaltung der SPD. Ein großer Teil der Funktionäre und der sozialdemokratischen Vordenker in Wissenschaft und Medien hat mit Schröders Reformen des Arbeitsmarktes bis heute seinen Frieden nicht gemacht. 

Runter immer, aufwärts nimmer

Der Niedergang der SPD bei Umfragen und ihren Wahlergebnissen hat auch damit zu tun, dass die Partei mit ihrem eigenen Erbe hadert. Ein wachsender Teil des Funktionärskaders möchte die Rückentwicklung von einer primär bürgerlichen Partei zu einer marxistisch eingefärbten primär linken Partei mit entsprechender Umverteilungs- und Steuerpolitik und mit starker Frontstellung gegen Reiche und Kapitalisten.

Als die Parteivorsitzende Andrea Nahles erkannte, dass sie die Gegensätze nicht würde bändigen können, trat sie im Juni 2019 von allen ihren Ämtern zurück. Der SPD-Parteivorstand entschied sich für ein kompliziertes mehrstufiges Verfahren zur Findung und Wahl einer neuen Parteispitze. Das Verfahren fand am 6. Dezember mit der Wahl von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu Parteivorsitzenden seinen Abschluss.

Beide waren bis dahin weitgehend unbekannt. Zu ihren Forderungen zählen:
• Die Rückabwicklung der Reformen das Arbeitsmarkts, die von Gerhard Schröder durchgesetzt worden waren
• Die Forderung nach staatlicher Verschuldung, obwohl die öffentlichen Kassen überquellen
• Die Forderung nach mehr Umverteilung und einer staatlichen Vermögenssteuer
• Die Ablehnung des in der NATO vereinbarten Ziels für die Verteidigungsausgaben (zwei Prozent des BIP)

Es geht auch um die persönliche Lebensplanung

Dem Wunsch der neuen Vorsitzenden und ihrer Unterstützer, die große Koalition möglichst schnell zu verlassen, steht die Haltung der SPD-Abgeordneten im Deutschen Bundestag entgegen. Diese wollen weit überwiegend bis zum regulären Wahltermin im Herbst 2021 weiter im Amt bleiben. Dabei geht es auch um die persönliche Lebensplanung. Das Desaster der nächsten Wahl kommt schließlich so oder so früh genug.

Die Wahl der neuen Vorsitzenden und die damit verbundene Umorientierung der programmatischen Ausrichtung der SPD ist kein Zufallsprodukt. Das zeigen das Abstimmungsverhalten und die Stimmergebnisse beim Mitgliederentscheid: In beiden Wahlgängen beteiligten sich nur gut 50 Prozent der Parteimitglieder, obwohl die Briefwahlunterlagen ins Haus kamen und die Stimmabgabe denkbar einfach war.

Beim zweiten Wahlgang mit einer Beteiligung von 54 Prozent lag das linke Bewerberduo deutlich vor Bundesfinanzminister Olaf Scholz und seiner Partnerin Klara Geywitz. Die Parteibasis hat, soweit sie sich überhaupt interessierte, eine stabile Präferenz für eine dezidiert linke Politik gezeigt, und damit das Meiste von dem abgelehnt, für das die Regierungspolitik der SPD in den letzten Jahren und Jahrzehnten stand und steht.  

Wann kommt die Wiedervereinigung?

Das Programm der SPD, für das die neue Führung steht, unterscheidet sich nicht mehr von jenem der Linkspartei. Insoweit werben beide um dieselben Wähler, so dass eigentlich ein neuer Vereinigungsparteitag angesagt ist. 

Bildungseliten, Leistungsträger, Besserverdiener und der wirtschaftliche Mittelstand können sich dagegen von der SPD nichts mehr erhoffen. Soweit sie Idealisten sind und eine utopische Gesinnung haben, sind sie künftig bei den Grünen besser aufgehoben. Die SPD hat mit ihrer programmatischen Wende den Abschied aus der Mitte der Gesellschaft eingeleitet und zugunsten abgestandener Träumereien hundert Jahre sozialdemokratischer Geschichte widerrufen.