29. 7. 2019 Den Kirchen laufen die Gläubigen weg

Den Kirchen laufen die Mitglieder schneller davon, als sich das Wort Kirchensteuer aussprechen lässt. Mehr und mehr entwickeln sich die römisch-katholische und die evangelische Kirche in Deutschland zu einer Vermögensverwaltung mit angeschlossener Politikberatung.
Die jüngsten Zahlen sind desaströs für beide Konfessionen. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Eckdaten für 2018 setzt die übliche Selbstkritik ein. Man müsse auf die Menschen zugehen, ihnen zuhören, mutig Reformen anpacken, Strukturen verändern, lernen statt lehren. So erklingt es seit Jahr und Tag, und ebenso lange hält der Exodus an. Sollte es nicht an der Zeit sein, die Melodie zu ändern?

In absoluten Zahlen hat es die Evangelische Kirche schlimmer getroffen, relativ hingegen die katholische. Luthers Erben verloren durch Austritte binnen Jahresfrist 220.000 Mitglieder – das ist ein Anstieg der Rücktritte um gut elf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auf römischer Seite waren es in derselben Kategorie 216.000 Mitglieder weniger, was einem Anstieg um knapp 29 Prozent entspricht. Insgesamt büßten die Protestanten  in den vergangenen zwei Jahren 395.000, die Katholiken 309.000 Menschen ein. Unverändert entvölkern sich die Kirchen der Reformation rascher als die ältere Konkurrenz. Woran es wohl liegen mag?

Der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, SPD-Mitglied und Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), hat eine Erklärung parat: „Da Menschen heute, anders als früher, aus Freiheit entscheiden, ob sie der Kirche angehören wollen, gilt es für uns heute noch deutlicher zu machen, warum die christliche Botschaft eine so starke Lebensgrundlage ist. (…) Mehr denn je ist unsere Gesellschaft auf Menschen angewiesen, die aus der festen Hoffnung ihres Glaubens auf eine bessere und gerechtere Welt leben.“  Blabla!
So klingt es aus den Bürostuben der meisten Landeskirchen und Diözesen.

Printpresse und Fernsehen der jüngsten Zeit lassen keinen Zweifel: die EKD hat sich in eine Ein-Thema-Partei verwandelt. Sie redet im Duktus eines immerwährenden grün-linken Sonderparteitags von den Segnungen grenzenloser Migration. Am 3. Juni unterzeichnete Bedford-Strohm den „Palermo-Appell“ und würdigte „Migrationsbewegungen“ als ein „Phänomen, das seine Ursprünge in dem Grundrecht der Menschen auf Mobilität hat.“ Zumindest das Grundgesetz kennt ein solches Grundrecht freilich nicht. Am 4. Juni schlossen sich Robert Habeck, Ruprecht Polenz und Gesine Schwan dem „Palermo-Appell“ an. Die Kirche hatte der Politik der rotgrünen Phalanx zugearbeitet.

Am 20. Juni erklärte der Evangelische Kirchentag seine Unterstützung für die Aktion „Gemeinsam für offene Häfen in Europa“ und diskutierte darüber mit „Carola Rackete, Kapitänin der Sea-Watch 3“. Am 27. Juni erhielt Bedford-Strohm gemeinsam mit der „Seenotrettungs-Organisation Sea-Watch“ die Ehrenbürgerwürde Palermos. Am 3. Juli begrüßte Bedford-Strohm die Freilassung Carola Racketes aus italienischem Hausarrest als „Punktsieg für Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit“ und dankte der „europäischen Zivilgesellschaft“. Am 6. Juli erklärte Bedford-Strohm seine Unterstützung für den Verein „Seebrücke“ und forderte „sichere Wege für Geflüchtete nach Europa“, also einen dauerhaften Migrationskorridor für die Menschen dieser Erde. Ob die EKD die mitunter lebenslangen Kosten für die Einwanderer übernimmt, war der Presseerklärung nicht zu entnehmen und auch nicht zu erwarten. Am 17. Juli lud die EKD zum „Resettlement-Programm ‚Neustart im Team‘ (NesT)“ für „500 besonders Schutzbedürftige“ und deren „sicheren Zugangsweg nach Deutschland“.

Am 19. Juli kommentierte die EKD die neuen Zahlen: „Mitgliederrückgang 2018 auf Vorjahresniveau. Erhöhte Austritte auch bei evangelischer Kirche.“

Keine Frage: Wer sich bei Amnesty International und Greenpeace pudelwohl fühlt, wer grün wählt oder noch weiter links, der wird von der EKD zuverlässig bedient. Der Rest muss sehen, wo er bleibt, auch wenn er mit rund zwei Dritteln der Bevölkerung die deutliche Mehrheit ist. Es eben ist ein entscheidender Fehler beider Kirchen, nur noch die politische Redeweise zu pflegen, und ein noch größerer, diese nur für ein ganz bestimmtes politisches Spektrum einzusetzen.Dabei geht es den Kirchen wie der Presse: man kann löblich Forderungen stellen, braucht aber keine Verantwortung zu tragen

Die katholische Bischofskonferenz unter dem Münchner Kardinal Marx vertraut demselben links-grünen Marginalisierungsrezept. Marketingtechnisch gesprochen sind die Kirchen vom Full Content Provider zum Spartenlieferanten geschrumpft. Natürlich haben auch die Missbrauchsfälle und die Diskussionen um den Zölibat katholischerseits zu Austritten beigetragen. Dass die EKD einen größeren Aderlass zu beklagen hat, belegt jedoch deren relative Bedeutung. Spötter mögen sagen, der Zölibat müsse nun fallen, um die Austrittslücke zur EKD endlich schließen zu können.

Die gutmenschelnde, im Wortsinn verantwortungslose Politisiererei der Kirchenoberen färbt ab bis in die kleinste Dorfpfarrei und stellt dort her, was im moralischen Tremolo beklagt wird: Spaltung. Wo statt der Rechtgläubigkeit das Rechthaben triumphiert, wird politische Abweichung zum Sündenfall. So geht mit der geistigen Weite auch die theologische Unterscheidungskraft verloren. Zustimmung wird vorausgesetzt, andere Meinungen ausgesondert. Insofern schrumpfen sich die deutschen Kirchen gerade gesund: zur Gemeinschaft der politisch Zuverlässigen, als die sie sich heute schon präsentieren.

Der Verfasser dieser Zeilen zahlt immer noch brav seine Kirchensteuern, aber er fühlt sich in seiner Kirche immer weniger wohl.