27. 11. 2018 Prof. Herdegen, Uni Bonn, im CICERO zum Migrationspakt

Der heiß umstrittene Migrationspakt ist zwar kein Freibrief zu ungehemmter Einwanderung. Trotzdem kann er beachtliche Folgen haben. Denn aus weichen Absichtsbekundungen entsteht schnell hartes Recht, schreibt der Völkerrechtler Matthias Herdegen der Universität Bonn am 27. 11. 2018 in CICERO.
Dass er dabei auch Mainstream-gemäß gegen die AfD und andere, die ihre Probleme mit dem Migrationspakt artikulieren, polemisiert, kann negiert werden, zeigt er doch im Verlauf seiner Gedanken genau die Argumente auf, die die Gegner des Paktes umtreibt. Die AfD sollte es nicht weiter beunruhigen, findet sie sich doch in guter Gesellschaft mit den osteuropäischen Staaten, Österreich, Tschechien, Australien, Israel und nicht zuletzt den USA. Und nahezu täglich werden es mehr!

„Der globale Migrationspakt ist ein buntes Sammelsurium von Verpflichtungen der Staaten, von Zielen, zutreffenden Analysen, trivialen Feststellungen und von Behauptungen, die eine komplexe Wirklichkeit eher verschleiern als beschreiben. So können alle politischen Kräfte nach Belieben Honig aus der selektiven Lektüre von mehr als 30 Seiten ziehen. Wenige werden einem Grundanliegen der fleißigen, alle möglichen Interessen bedienenden Verfasser des Paktes widersprechen wollen: menschenwürdige und sichere Bedingungen für Migration und eine gelungene Integration nach rechtmäßiger Einwanderung. Auch eine Achtung der Menschenrechte in Herkunfts-, Transit- und Zielstaaten muss außer Streit stehen. Aber das Dokument der Vereinten Nationen will viel mehr.

Schon der Titel lässt aufhorchen. Es ist kein globaler Pakt „zu“ einer gesicherten, geordneten und regulären Migration, sondern ein Pakt „für“ Migration. Migration erscheint hier nicht als eine zu bewältigende Herausforderung, sondern als etwas Wünschenswertes, vor allem im ökonomischen Sinne. So deutet der Pakt die Migration einseitig als Quelle des Wohlstands. Aber weite Teile unserer Gesellschaft sehen dies seit dem Verlust der Grenzkontrolle im Jahre 2015 nicht so heiter. Der Pakt flankiert die undifferenzierte Verklärung von Migration als Beitrag zu wirtschaftlicher Prosperität durch die Erwartung, die „reguläre“ Migration auszubauen, und verheißt ein breites Bündel von sozialen Leistungen für Migranten. Der lange Katalog von Maßnahmen zur Integration und Inklusion von Migranten belohnt den geduldigen Leser auch mit erfrischend Niedlichem wie „kulinarischen Festen“.

Als wesentliche (wenn auch nicht alleinige) Ursachen von Migration erscheinen in dem Pakt Naturkatastrophen und Klimawandel. Dabei treten undemokratische und korrupte Regime als Ursachen von Migration ebenso in den Hintergrund wie das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit, die Grundbedingung einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung ist.

Der Migrationspakt soll Solidarität, wie sie die Opfer politischer oder ethnischer Verfolgung und Flüchtlinge vor kriegerischer Gewalt auch in Deutschland erfahren haben, auch für all die Migranten mobilisieren, die sich – ganz verständlich – um bessere materielle Lebensbedingungen bemühen. Dabei gerät das legitime Interesse an einer nach bestimmten Kriterien gesteuerten Einwanderung aus dem Blick. Allerdings überlässt es der Pakt in seiner Beliebigkeit den jeweiligen Staaten, auch hier in souveräner Freiheit eigene Prioritäten zu setzen. In Deutschland wirkt dabei verhängnisvoll, dass klare Vorstellungen über das Leitbild einer liberalen, offenen und leistungsfähigen Gesellschaft auch unter den Bedingungen von Zuwanderung nicht erkennbar sind. Dies ist nicht dem Pakt anzulasten, sondern einer kraftlosen Politik. Die Freiheit zur Steuerung von Einwanderung verpufft, wenn hierzu der klare politische Wille fehlt.

Kulturelle Konflikte werden übergangen

Der Pakt umschreibt nur Verpflichtungen von Staaten, nicht aber Verhaltenserwartungen an Migranten. In der nachvollziehbaren Angst vor Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in den aufnehmenden Gesellschaften mahnt der Pakt sogar eine staatliche Einflussnahme auf den öffentlichen Diskurs an. Aber er übergeht kulturelle Konflikte durch mangelnde Integrationsbereitschaft ebenso wie die langfristige Gefährdung liberaler Gesellschaften durch den massiven Zuzug von Einwanderern mit einer klar antisemitischen oder sonst diskriminierenden Grundhaltung. Die Sorge um die schleichende Veränderung offener Gesellschaften in Europa scheint etwa in Israel stärker ausgeprägt zu sein als oft in der Europäischen Union selbst. Der Erhalt einer liberalen und pluralistischen Gesellschaft ist auch nicht die Sorge der AfD, wenn diese in vertrauter Rhetorik Ängste vor einer „Umsiedlung“ schürt.

Im entscheidenden Punkt stiftet der UN-Pakt mit seinem Werben für Migration an sich Unklarheit und Verunsicherung: Zielführend ist nicht die Frage nach dem Wert von Migration per se, sondern nach ihrem Umfang und der Integrationsfähigkeit der einzelnen Migranten in einer liberalen Gesellschaft.

Rechtlich nicht bindend?

Der globale Pakt versteht sich selbst als „rechtlich nicht bindenden Kooperationsrahmen“. Deshalb bildet er auch keinen völkerrechtlichen Vertrag im Sinne des Grundgesetzes, dem der Bundestag in Gesetzesform zustimmen müsste. Die Entscheidung über die Annahme liegt also in der Zuständigkeit der Bundesregierung. Dennoch soll der Migrationspakt – wie bedeutende völkerrechtliche Verträge – auf einer Staatenkonferenz in Marrakesch im Dezember feierlich angenommen werden. Der Pakt formuliert seine Standards durchgehend als „Verpflichtungen“, zu denen sich die Staaten bekennen.

Zugleich aber bekräftigt er die Souveränität der Staaten, ihre nationale Migrationspolitik nach ihrem Ermessen zu gestalten. Eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Änderung nationaler Gesetze begründet der Pakt also nicht. Für die Bundesrepublik Deutschland entspricht das nationale Recht ohnehin durchgehend den Anforderungen des Paktes. Viele Staaten, die als Transit- oder Zielländer von Migration die Standards des Paktes massiv unterschreiten (aus Unvermögen oder mangels politischen Willens), werden sich fröhlich in den bunten Reigen der annehmenden Staaten einreihen, da sie sich ja rechtlich zu nichts verpflichtet haben.

Potenzial zu beachtlichen Auswirkungen im Völkerrecht

Jedoch schöpft der Hinweis auf die völkerrechtliche Unverbindlichkeit die Problematik der rechtlichen Wirkung nicht aus. Mit dem Bekenntnis zu den im Pakt genannten Verpflichtungen anerkennen die zustimmenden Staaten die Standards des Paktes als Richtschnur für den gebotenen Umgang mit Einwanderung und die Behandlung von Migranten. Dies lässt sich dann als ein kollektives Rechtsbewusstsein deuten. Wie viele andere Dokumente des sogenannten „soft law“ wird der Pakt die Auslegung und Fortentwicklung geltender Normen des Völkerrechts und auch des nationalen Rechtes mitbestimmen.

Der Pakt nimmt ausdrücklich auf völkerrechtliche Verträge zum Schutz von Menschenrechten Bezug und stellt damit eine Verbindung zwischen seinen Verpflichtungen und geltendem Völkerrecht her. Internationale Gerichte und andere Vertragsorgane stützen sich gerade bei der „evolutiven Auslegung“ von Menschenrechten immer wieder auf nicht unmittelbar bindende völkerrechtliche Dokumente als Ausdruck eines neuen Rechtsbewusstseins in der Staatenwelt. In diesem Sinne hat der globale Migrationspakt durchaus das Potenzial zu beachtlichen Auswirkungen im Völkerrecht. So wird aus „weichen“ Absichtsbekundungen schnell „hartes“ Recht. Schon deswegen war es politisch geboten, dass sich der Deutsche Bundestag mit dem globalen Migrationspakt befasst.

Die Folgen unbedarften Moralisierens

Die Gestaltung von Einwanderungspolitik wird – anders als bei Asyl oder Aufnahme von Flüchtlingen – nicht von humanitärer Solidarität, sondern von nationalen Interessen bestimmt. Dies scheinen aufseiten der Verfechter des Paktes eher die Vertreter von Herkunfts- und Transitstaaten begriffen zu haben als seine Anhänger in Deutschland. Schon jetzt rufen grüne Politiker nach einer raschen „Umsetzung“ des Paktes in Deutschland.

Die Folgen unbedarften Moralisierens, einer unverlässlich gesteuerten Migration und daraus entstehender gesellschaftlicher Veränderungen tragen ganze Generationen. Der UN-Pakt ist gewiss nicht das von der AfD beschworene Monstrum. Aber er weckt Erwartungen an ein Füllhorn staatlicher Wohltaten und verstärkt Anreize zur irregulären Migration. Die Migrationswilligen an den Küsten Afrikas und anderswo fragen nicht nach juristischen Feinheiten, sondern werden den Pakt eher als Verheißung einer neuen „regulären“ Einwanderung auf die Inseln der Seligen deuten. Das Narrativ, die Bundesrepublik Deutschland würde mit einer kommentarlosen Zustimmung eine Fülle anderer Staaten zur Anhebung ihrer Standards drängen, erscheint reichlich unbedarft.

Rechtsstaatlichkeit und „good governance“ sind der beste Weg

Gute Gründe sprechen dafür, dass die Bundesregierung die Annahme mit einer Erklärung verbindet. Diese Erklärung sollte die Achtung der grundgesetzlichen Wertordnung als Basis von Migration ebenso betonen wie die Zukunftsvorstellung einer offenen Gesellschaft mit einer gesteuerten Einwanderung. Eine derart „konditionierte“ Zustimmung würde auch dem Eindruck entgegenwirken, das harmoniesüchtige Deutschland wolle seine Zustimmung in den Dienst einer naiven Willkommenskultur mit all ihren materiellen Anreizen stellen. Im Übrigen kann Deutschland dem Migrationspakt zu jedem beliebigen Zeitpunkt zustimmen.

Die Bundesregierung sollte bei der Annahme auch deutlich machen, dass der Einsatz für Rechtsstaatlichkeit und „good governance“ in der Entwicklungspolitik der beste Weg ist, um leistungswilligen Menschen aus ärmeren Ländern in ihrer Heimat Perspektiven zu geben. Wie der Entwicklungsökonom Paul Collier und andere aufgezeigt haben, könnten wir mit dem finanziellen Aufwand für die Integration eines unausgebildeten Migranten über hundert Menschen in einem Entwicklungsland ein besseres Leben verschaffen. Diese Hilfe muss Grundlage unserer migrationspolitischen Ethik sein."