21. 6. 2018 Erkenntnisse aus der neuesten IPSOS-Studie
Heute ist Deutschland ein hochtechnologisiertes Land, wohlhabend und modern. Von häuslicher Innerlichkeit und Familienidyll ist nur noch wenig geblieben, stattdessen verwirklicht man sich selbst, lebt patchworkfamiliär und ist sozial, beruflich und räumlich flexibel.
Die neueste Ipsos Global Advisor Umfrage wurde in 28 Ländern weltweit durchgeführt und erforscht die Einstellungen der Bevölkerung zu sozialistischen Ideen im 21. Jahrhundert. Die Ergebnisse beleuchten eine große Bandbreite an Meinungen und Gefühlen, Skepsis und Zustimmung innerhalb der verschiedenen Länder.
Demnach, so das Ergebnis, stimmen in Deutschland nur 38 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass individuelle Freiheit wichtiger sei als soziale Gerechtigkeit. Dabei liegt Deutschland unter den 28 Ländern, in denen die Umfrage durchgeführt wurde, auf Platz 25. Nur in der Volksrepublik China und dem traditionell in die Égalité verliebten Frankreich waren die Werte für die Freiheit noch schlechter.
Sozialdemokratismus als deutsche Staaträson
Entsprechend skeptisch gibt man sich hierzulande gegenüber der Marktwirtschaft. Die ermöglicht den Deutschen zwar ihren Wohlstand und ihren üppigen Sozialstaat, dennoch sind nur 49 Prozent davon überzeugt, dass sie das Beste im Menschen hervorbringt. Konkurrenz, Wettbewerb und Risiko sieht man in dem Land, in dem Sozialdemokratismus eine Art Staatsräson darstellt, äußerst skeptisch. Denn der deutsche Biedermeier des 21. Jahrhunderts sehnt sich nach sozialer Nestwärme.
Besonders spannend ist daher der Vergleich der deutschen Umfragewerte mit denjenigen anderer Länder. In Indien etwa (72 Prozent), den USA (66 Prozent) oder Südafrika (64 Prozent) zeigt sich eine große Mehrheit davon überzeugt, dass individuelle Freiheit wichtiger als soziale Gerechtigkeit ist, der weltweite Schnitt liegt bei 52 Prozent. Und in Ländern wie Indien und Malaysia denken etwa deutlich mehr als 80 Prozent der Menschen, dass die freie Marktwirtschaft das Beste im Menschen hervorbringt.
Bemerkenswert sind auch die Antworten auf die Frage, ob herausragendes Talent sich im Verdienst niederschlagen soll. In Ländern wie Rumänien, Russland oder Südkorea bejahen mehr als 80 Prozent diese Frage, in den USA, in Italien, Indien und anderen Staaten immer noch deutlich mehr als 70 Prozent – der weltweite Durchschnitt liegt bei 69 Prozent. Nur in Deutschland, einem Land, das aufgrund seiner talentierten und gut ausgebildeten Techniker und Ingenieure wohlhabend geworden ist, denken lediglich 47 Prozent, dass größeres Talent auch ein höheres Einkommen zur Folge haben sollte – der niedrigste Wert weltweit.
Eine Quote für Untalentierte?
Die Gründe dafür sind leicht zu erraten. Denn für Talent kann man schließlich nichts. Wenn Untalentierte weniger Lohn bekommen, so ist das in der Logik deutscher Gesinnungsapostel schlicht diskriminierend. Wahrscheinlich wird es nicht mehr lange dauern und wir bekommen hierzulande eine Quote für Untalentierte – der Gerechtigkeit wegen.
Nein, Deutschland, so wird das nichts. Man braucht kein Schwarzseher zu sein, um zu prognostizieren, dass ein Land, das mehr in Umverteilung als in Wettstreit verliebt ist, das nicht Talent schätzt, sondern das Mittelmaß und in dem individuelle Freiheit als Bedrohung gilt, dass ein solches Land die Mentalität und den Leistungswillen verloren hat, die zu der Anhäufung jenes Tafelsilbers beigetragen haben, das in Form schwarzer Nullen seit einigen Jahren verbraten wird.
Deutschland lebt von der Substanz. Und Wohlstand macht träge, verzagt und zugleich anspruchsvoll. Eine verhängnisvolle Kombination. Andere Länder, das zeigt die IPSOS-Studie deutlich, sind anspruchslos, dafür wagemutig, risikobereit und couragiert. Ihnen wird die Zukunft gehören. In Deutschland macht man sich derweil Sorgen um die soziale Gerechtigkeit. So viel hat sich hierzulande eben doch nicht geändert seit Heines Zeiten: Man ist immer noch gerne Ideologe, Vor- und Nachdenker, Träumer.
Sozialismus – wertvolle Ideale aber real mit schlechten Noten
Die Hälfte der Menschen weltweit (50%) stimmt zu, dass heute sozialistische Ideale von großem Wert für den gesellschaftlichen Prozess seien. In Deutschland unterstützen 45 Prozent der Befragten diese Ansicht. Es verwundert nicht, dass die stärkste Zustimmung aus China kommt, aber auch in Indien (72%) und Malaysia (68%) schließen sich Mehrheiten dieser Meinung an. Die USA (39%), Frankreich (31%) und Ungarn (28%) sind sozialistischen Idealen deutlich weniger zugeneigt. In Japan glaubt sogar nur jeder fünfte Befragte (20%), dass sozialistische Ideen von Wert für den gesellschaftlichen Prozess seien.
Fast jeder zweite Befragte weltweit (48%) hält den Sozialismus für ein System politischer Unterdrückung, Massenüberwachung und staatlichen Terrors. In Indien (66%), den USA (61%) und Südkorea (60 %) stimmten fast zwei Drittel der Befragten dieser Aussage zu. In Deutschland hält jeder Zweite (49%) den Sozialismus für ein System der Unterdrückung. In Schweden (34%), China (31%), Spanien (30%) und Russland (29%) denkt nur eine Minderheit so negativ über den Sozialismus.
Nur ein Drittel (33%) der Befragten glaubt im Übrigen, dass die Arbeiterklasse in ihrem politischen System gut repräsentiert sei. In Deutschland ist dieser Wert mit 35 Prozent fast identisch. Diese Aussage fand hingegen große Zustimmung in Saudi-Arabien (64 %), Indien (63%) und China (60%). Franzosen (19%), Mexikaner (19%) und Serben (14%) stimmten ihr am wenigstens zu.
Länder mit freier Marktwirtschaft dezent positiv eingestellt
Zwei Drittel der Menschen weltweit (66%) stimmen zu, dass die freie Marktwirtschaft das Beste aus den Menschen hervorbringt. Sozialistische Ideale und freie Marktwirtschaft müssen nicht unbedingt als Widerspruch gesehen werden. So stimmen vor allem Befragte in Indien (86%) und Malaysia (84%), die, wie gezeigt wurde, ebenfalls sozialistischen Idealen zugeneigt sind, hier den positiven Aspekten der freien Marktwirtschaft zu. In den Ländern mit existierender freier Marktwirtschaft ist die Zustimmung zu dieser Aussage weniger überschwänglich, nur ungefähr die Hälfte der Befragten aus Schweden (52%), Belgien (51%), Deutschland (49%) und Frankreich (43%) stimmen zu.
Individuelle Freiheit wichtiger als soziale Gerechtigkeit
Insgesamt denkt jeder zweite Teilnehmer dieser Studie (52%), dass individuelle Freiheit wichtiger sei, als soziale Gerechtigkeit. Bei Menschen in Indien (72%), den USA (66%) und Südafrika (64%) ist dieser Gedanken am stärksten ausgeprägt. Wohingegen die Menschen in Deutschland (38%), China (37%) und Frankreich (36%) am wenigsten dazu neigen, dieser Aussage zuzustimmen.
Fast sieben von zehn Befragten (69%) finden es richtig, dass talentierte Menschen mehr verdienen, als solche, die weniger begabt sind. Rumänen und Russen (je 82%), Südkoreaner und Chinesen (je 81%) sind überdurchschnittlich davon überzeugt, während nur die Hälfte der Befragten in Belgien (56%), Frankreich (51%) und Deutschland (47%) so denken.
Acht von zehn Deutschen wollen höhere Steuern für die Reichen zugunsten der Armen
Über alle 28 Länder hinweg denken acht von zehn Menschen (78%), dass die Reichen höhere Steuern zahlen sollten, um die Armen zu unterstützen. Die Zustimmung hierzu ist in Spanien (87%), Serbien, China (je 86%) und in Russland (85%) am höchsten. Auch in Deutschland sind 81 Prozent dieser Meinung. Am wenigsten ist man in den USA (67%), Brasilien (66%) und Südafrika (58%) davon überzeugt, dass reiche Menschen zugunsten der Armen mehr Steuern zahlen sollten.
Große Mehrheiten in allen 28 Befragungsländern sind der Meinung, dass Bildung gebührenfrei sein sollte (89%) und Gesundheitsfürsorge ein Menschenrecht sei (87%). Einzig in Japan können sich nur 47 Prozent mit der Aussage zur Gesundheitsfürsorge anfreunden.
Große Zustimmung für bedingungsloses Grundeinkommen – auch in Deutschland
69 Prozent der Befragten stimmten zu, dass jeder Einwohner ein bedingungsloses Grundeinkommen haben sollte. Vor allem in Russland (95%), der (87%) und in Indien (83%) fand diese Idee Anklang. Auch in Deutschland votiert eine große Mehrheit von 70 Prozent für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Die Schweden (56%), Argentinier (53%) und Japaner (38%) waren weniger überzeugt.
Dr. Robert Grimm, Leiter der Sozial- und Politikforschung bei Ipsos Deutschland, wundert sich, dass beinahe 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und 200 Jahre nach der Geburt von Karl Marx sich sozialistische Ideale eines starken Zuspruchs erfreuen, denn „ideologische Gegensätze zwischen Kollektivismus und Marktwirtschaft waren prägend für die Konflikte das 21. Jahrhundert. Dass die Deutschen sich nach einer sozialistisch geprägten Gemeinschaft mit eingeschränkter individueller Freiheit sehnen, bleibt zu bezweifeln. Trotzdem ist es vorstellbar, dass das Vertrauen in das gegenwärtige neoliberale Wirtschaftssystem, das geprägt ist von krisengeschüttelten international operierenden Konzernen und strukturellen systemischen Schwächen (Finanz- und Eurokrise), bei vielen Bürgern verloren ging. Die Daten sind eventuell indikativ für einen Reformwillen der Bürger hin zur sozialen und nachhaltigen Marktwirtschaft, nicht aber zur Abschaffung der Marktwirtschaft.“
Methodik:
Insgesamt wurden 20.793 Menschen zwischen dem 23.03 und dem 06.04.2018 interviewt. Die Befragung wurde über das Ipsos Online Panel in 28 Staaten weltweit durchgeführt (Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Kanada, Chile, China, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Ungarn, Indien, Italien, Japan, Malaysia, Mexiko, Peru, Polen, Rumänien, Russland, Saudi-Arabien, Serbien, Südafrika, Südkorea, Spanien, Schweden, Türkei und die USA).
Ungefähr 1000 Teilnehmer im Alter von 18-64 Jahren wurden in Australien, Brasilien, Kanada, China, Frankreich, Italien, Japan, Malaysia, Rumänien, Spanien, Großbritannien und den USA befragt. Ungefähr 500 Menschen im Alter von 16-64 Jahren wurden jeweils in Argentinien, Belgien, Chile, Ungarn, Indien, Mexiko, Peru, Polen, Russland, Saudi-Arabien, Serbien, Südafrika, Südkorea, Schweden und der Türkei befragt.
Die Präzision der Ipsos Online Umfragen sind bei 1000 Befragten auf +/- 3,5 Prozent genau und bei 500 Befragten auf +/- 5,0 Prozent genau. Mehr Informationen über die Genauigkeit dieser Befragungen findet man auf der Ipsos Website.
Es wurde eine Gewichtung der Daten vorgenommen, um die demografischen Merkmale auszugleichen und damit sicherzustellen, dass die Stichprobe die aktuellen offiziellen Strukturdaten der erwachsenen Bevölkerung eines jeden Landes widerspiegelt.
Brasilien, Chile, China, Indien, Malaysia, Mexiko, Peru, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika und die Türkei bilden eine nationale Stichprobe, die eher die wohlhabende und vernetzte Bevölkerung abbildet. Diese Bevölkerungsgruppe spielt eine wichtige gesellschaftliche Rolle und repräsentiert eine bedeutende, aufstrebende Mittelschicht.