27. 6. 2016 Eine europäische Scheidung
Wie in einer „normalen“ Ehescheidung geht es auch beim Brexit zu: der zurückbleibende Partner ist beleidigt.
Da haben doch die Briten die Stirn gehabt, die EU zu verlassen! Die Zurückgebliebenen; „Wenn Du Dich schon trennen willst, dann aber sofort!“ Als ob man nicht auch danach noch mit den Briten zusammenarbeiten müsste!
Kam das Votum so überraschend? Die Norweger sind gefragt worden, ob sie der EU beitreten wollten, und haben zweimal mit klarem NEIN gestimmt. Und die Grönländer (als früherer Teil Dänemarks Mitglied der EU) haben ganz schnell nach ihrer Unabhängigkeit der EU den Rücken gekehrt. Die Bevölkerung in den anderen Mitgliedsstaaten, auch in Deutschland, wurde gar nicht erst gefragt – ihre Zustimmung war mehr als ungewiss. Übrigens wurde sie auch nicht gefragt, als es um die Einführung des Euro ging – zu deutlich war in Umfragen die Ablehnung.
Selbstkritische Töne sind in der jetzigen Situation nur ganz vereinzelt und ganz leise zu hören. Warum erstarken in den Mitgliedsländern die EU-kritischen und nationalistischen Parteien, in Frankreich, in den Niederlanden oder in Deutschland die AfD? Wird es nicht langsam einmal Zeit, sich an die eigene Nase zu fassen und zu überlegen, wo Defizite vorhanden sind und welche Fehler die EU macht?
Da ist zum einen ein verqueres Demokratieverständnis. Die wichtigen Entscheidungen trifft in Brüssel der Ministerrat, also die Fachminister der Mitgliedsstaaten. Sie sind bestenfalls indirekt demokratisch legitimiert, nämlich über ihre nationalen Parlamente. Ihre Beschlüsse müssen aber von den nationalen Parlamenten umgesetzt werden, und bei den Ministern hat sich die Unsitte breitgemacht, auf diesem Wege Regelungen in den Staaten einzuführen, die bei den nationalen Parlamenten nicht oder nur sehr schwer umsetzbar gewesen wären. Im Gegensatz dazu hat das Europäische Parlament nur eine Alibi-Funktion mit untergeordneter Bedeutung.
Die EU ist aus der EWG hervorgegangen, hat also zuvörderst wirtschaftliche Interessen. TTIP ist ein beredtes Beispiel. Die Brüsseler Bürokraten wissen bis heute nicht die betroffenen Bürgerinnen und Bürger von den Vorteilen zu überzeugen, deretwegen man die Nachteile in Kauf nehmen sollte. Stattdesssen machen sie auf Geheimnistuerei und halten die Akten unter Verschluss.
Auch auf anderer Ebene hat man dem Götzen „Wirtschaft“ zuliebe vieles durchgesetzt resp. durchsetzen wollen: Man denke nur an die von Brüssel energisch geforderten Privatisierungen der öffentlichen Hand. Dabei haben wir alle die unseligen Auswirken der Privatisierungs-Euphorie hautnah miterlebt: Die Hunderttausende von Putzfrauen, weil sie aus den öffentlichen Ämtern entlassen und von Reinigungsfirmen – bei deutlich geringerer Bezahlung - aufgenommen wurden, wissen ein Lied davon zu singen. Aber auch die Staatsbetriebe, z.B. die Bahn AG, müssen ohne Rücksicht auf Verluste börsenfähig gemacht werden. Was dabei herauskommt, sieht man bei dem ehemaligen Staatsunternehmen "Volkswagen", das heute überwiegend den Familien Piech und Porsche gehört.
Doch spätestens bei der Privatisierung von Krankenhäusern merkte auch Otto Normalverbraucher, dass man nicht alles nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sehen darf. In Potsdam konnte man das Gottseidank verhindern.
Der Versuch Brüssels, die deutschen Sparkassen abzuschaffen, ist noch in guter Erinnerung; den Brüsselern sind die Privatbanken, die nur an Gewinnmaximierung denken und dabei rücksichtslos rechtliche Grenzen überschreiten (Deutsche Bank AG), offensichtlich lieber. In Deutschland sind sie dank der Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken nicht systemrelevant!
Apropos Banken: Die Europäische Zentralbank befindet sich mittlerweise außerhalb der politischen Kontrolle. Sie druckt entgegen den Ratschlägen von Fachleuten Geld und kauft damit nicht nur Anleihen maroder Staaten auf, sondern neuerdings auch Anleihen von Konzernen. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann diese Blase platzt, und der Leidtragende wird wieder einmal der „kleine Mann“ und Steuerzahler sein. Und über den ESM darf man gar nicht erst nachdenken.
Geklagt wird auch über die Bürokratie in Brüssel. Die Krümmung der Banane ist ein typisches, aber nur unerhebliches Beispiel, aber es gibt eine Vielzahl wichtigerer Vorschriften, deren Nutzwert mehr als zweifelhaft ist, die aber unser Zusammenleben regeln.
Kein Wunder, dass die betroffenen Bürger der Nationalstaaten ein Hineinregieren in ihre Angelegenheiten beklagen. Von dem Grundsatz, alles so bürgernah wie möglich und damit auf der möglichst untersten Ebene zu entscheiden, entfernen sich die Brüsseler immer mehr.
Natürlich darf man auch Brüssel nicht nur unter einer Kosten-Nutzen-Relation sehen, bei der die Nationalstaaten fragen, wieviel Geld sie einzahlen und wieviel sie von Brüssel bekommen. Aber man darf Sparsamkeit in Brüssel erwarten! Müssen die EU-Parlamentarier mehrfach im Jahr von Brüssel nach Straßburg mit Mann und Maus, sprich mit Personal und Akten, umziehen? Warum verdient ein Ministerialrat in Brüssel das Doppelte eines Ministerialrates in Berlin? Brauchen wir wirklich in Brüssel ein neues Außenministerium?
Kein Wunder, wenn in den Mitgliedstaaten die Bevölkerung das Vertrauen in die EU verliert. Ein bisschen zu Unrecht, denn die nationalen Regierungen haben ihren Anteil daran.
Deshalb sollten die EU-Befürworter in Brüssel, Berlin und den andern Hauptstädten den Austritt des Vereinigten Königreiches zum Anlass nehmen, selbstkritisch darüber nachzudenken, was sich falsch entwickelt hat und was dringend der Nachbesserung bedarf. Der Stimmenzuwachs der Europa-kritischen Parteien nicht nur in Deutschland sollte eine Warnung sein; ihre Wähler als rechts, nationalistisch oder gar faschistisch abzutun, ist zwar billig, trifft aber nicht den Kern des Problems.
Aber man darf daran zweifeln, dass man in Brüssel und den anderen Hauptstädten zu einer Selbstkritik fähig ist. Insofern ist die Gefahr des Auseinanderbrechens in den nächsten Jahren groß, zumal die EU-kritischen Parteien in den Mitgliedsstaaten weiter auf dem Vormarsch sind.
Das wäre schade für die großartige europäische Idee. Aber ein „Weiter so“ geht nicht! Jetzt muss dringend reformiert werden, bevor es zum Dexit, Grexit oder zu anderen Austritten kommt.